Beziehungs-Selbst

„Wenn die Wurzeln fest sind, braucht man den Wind nicht zu fürchten.“

- Chinesische Weisheit -

Wenn wir uns auf eine Beziehung einlassen, gehen wir davon aus, mit zahlreichen wunderbaren Momenten beschenkt zu werden, müssen aber gleichermaßen damit rechnen, hin und wieder verletzt zu werden. Auch unser Partner lässt sich genauso wie wir auf eine Reise voll neuer Erfahrungen und Eindrücke mit uns ein.

Zu Beginn einer Beziehung ist alles neu, unerforscht und aufregend. Oftmals macht gerade das Unbekannte den attraktiven Reiz aus, der das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch verursacht und unser Herz wie wild zum Pochen bringt.

Am Anfang der gemeinsamen Reise hat jeder sein individuelles Selbst im Rucksack, also all jene Eigenschaften und Merkmale, die uns und unseren Partner getrennt voneinander ausmachen. Es sind diese Besonderheiten, die dazu geführt haben, dass wir uns in den jeweils anderen verlieben und die wir aneinander schätzen. Mit der Zeit werden sich aber auch noch weitere Eigenschaften zeigen, die dem jeweils anderen eventuell in Zukunft weniger gefallen werden und auf dem weiteren Weg auch zu Problemen und Konflikten führen können.

Mit der Zeit entwickeln wir uns gemeinsam weiter, es entsteht zu unserem ganz persönlichen Selbst ein Beziehungs-Selbst.

Die Psychoanalytikerin Verena Kast, beschreibt als den wichtigsten Aspekt des Beziehungs-Selbst „die Ergänzungen und Erweiterungen des Selbst, die für beide Beteiligte durch die gelebte und gestaltete Beziehung mit dem geliebten Menschen möglich geworden sind“.
Zusammen werden Probleme bewältigt und Herausforderungen gemeinsam überstanden. Jeder profitiert dabei von den Fähigkeiten und der Unterstützung des anderen. Wir treffen gemeinsame Entscheidungen. Das Beziehungs-Selbst wächst und wird immer stärker.

Bei allen Paaren kann es früher oder später zu einem Hinterfragen des jeweils eigenen Selbst sowie des Beziehungs-Selbst kommen. Zumindest einer beginnt ein wenig die Orientierung auf der gemeinsamen Reise zu verlieren. Manchmal betrachten wir es als ungerecht, wenn der Partner immer noch einen bestimmten Grad an Individualität an den Tag legt und manchmal treffen wir Entscheidungen, die mehr uns alleine als dem Beziehungs-Selbst dienlich sind. Manchmal laufen wir Gefahr, uns im Selbst des anderen aufzulösen und den Bezug zu unserem eigenen Selbst zu verlieren.

An diesen Weggabelungen kommt es in vielen Fällen zu Konflikten und der Betrachtung der Beziehung aus einem anderen Blickwinkel. Gerade in dieser Zeit geht es nicht nur darum, die eigenen Bedürfnisse, sondern auch die des Partners, nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist für die weitere Reise wichtig, das Verständnis für die Beziehung, jenes für den Partner und jenes für sich selbst in Einklang zu bringen. Das bedeutet, dass wir uns mit den Anliegen und Wünschen des Partners genauso auseinandersetzen müssen wie mit unseren eigenen und akzeptieren, dass sich Bedürfnisse im Laufe der Zeit bei jedem von uns ändern können.

Eine gesunde Betrachtung der aktuellen Bedürfnisse und das in-Einklang-Bringen von Beziehungs-Selbst und dem jeweils eigenen Selbst, hilft beiden Partnern, sich neu zu orientieren. Ich nenne dies das Beziehungs-Selbst-Verständnis.

Das Beziehungs-Selbst-Verständnis beschreibt:

Eine Neuorientierung kann dazu führen, dass die bisherige Reise, möglicherweise mit geänderten Zielen oder Mitteln, gemeinsam fortgesetzt wird, oder aber auch, dass man getrennt voneinander in unterschiedliche Richtungen weiterreist.

In jedem Fall wird die weitere Reise nicht mehr wie die bisherige sein, denn dieser Abschnitt war für sich besonders und einzigartig, aber eine Neuorientierung eröffnet für jeden von uns ganz andere Möglichkeiten und Herausforderungen, sowohl gemeinsame wie auch individuelle.