Diese Nacht kurz vor Weihnachten hat alles verändert und eine neue Reiseroute bestimmt. Nach dieser Nacht war ich extrem distanziert, physisch wie psychisch. Ich ließ Robert nicht an mich heran, auch wenn er sich in einer massiven Depression auflöste und den Kontakt zu mir suchte. Er brach zusammen, heulte und beteuerte wie sehr ihm das alles leid täte. Er wisse, dass er nun etwas ändern müsste und bettelte mich an, trotz alledem mit ihm zu seiner Mutter zu fahren und ihm noch eine Chance zu geben. Er bat mich auf Knien, ihn nicht zu verlassen. Er würde nun alles tun. Ich hatte sofort wieder mein schlechtes Gewissen an meiner Seite und dachte mir, dass diese Nacht nun vielleicht wirklich etwas in ihm wachgerüttelt haben könnte. So beschloss ich, trotz meiner Zweifel und trotz all der furchtbaren Dinge in der Nacht zuvor, mit ihm zu seiner Mutter zu fahren.
In der gesamten Zeit bei seiner Mutter fühlte ich mich wie in Trance. Ich bekam fast nichts mit, suchte nur Kontakt zu meinem Sohn, mit dem ich viele und lange Spaziergänge alleine unternahm. Ich konnte nicht einmal richtig nachdenken.
Robert versprach seiner Mutter und mir, sich professionelle Hilfe zu holen und bat mich, ihn bei der Suche zu unterstützen. In diesen Tagen brach Robert mehrfach heulend zusammen und bat mich immer wieder, ihn nicht zu verlassen. Auch seine Mutter bettelte mich an, ihren Sohn nun in seiner schlimmsten Stunde zu unterstützen. Er würde mich brauchen, meinte sie des Öfteren.
Ich war komplett abgestumpft, reagierte und agierte wie ein Roboter. Ich fühlte nichts mehr.
Als wir wieder zuhause waren, ging Robert in den Krankenstand und blieb daheim. Lediglich die Therapietermine nahm er war. Er hatte sich in einem Suchtzentrum angemeldet, in welchem er multiprofessionelle Unterstützung erhielt. Er schwärmte von seinem Psychotherapeuten und wie gut ihm das alles täte. Robert wirkte glücklich und verhielt sich so, als ob nie etwas passiert wäre.
Ich aber kam aus meinem Zustand nicht mehr heraus. Ich hörte vorerst auf zu arbeiten, kümmerte mich nur mehr um meinen Sohn und den Haushalt und war zu mehr einfach nicht fähig. Meine Therapie musste ich schon weit vor dieser Eskalation zu Weihnachten aus gesundheitlichen Gründen meiner Therapeutin beenden und ich hatte mich auch nicht um einen Ersatz bemüht. Damals dachte ich, ich würde es nun auch ohne Hilfe schaffen. Ein großer Fehler, wie sich später herausstellte.
Roberts Therapeut nannte ihm einen Paartherapeuten und er würde uns anraten, diesen um Hilfe zu bitten. Robert erzählte mir dies eines Abends und da ich keine Kraft hatte und mir eigentlich alles egal war, stimmte ich schulterzuckend mit einem „Ok“ zu. Robert war total euphorisch und meinte, so würden wir nun endlich alles in den Griff bekommen. Doch dieser Therapeut „tickte“ nicht so wie jene Therapeutin, die wir vor unserer Hochzeit aufgesucht hatten. Dieser Therapeut ließ sich von Roberts Redeflut zunächst gar nicht beeinflussen. Er wollte von Roberts Ideen, mit denen er sofort in die Therapie einstieg vorerst mal nichts wissen. So meinte Robert, dass er sich nur umbringen wollte und nur deshalb so viel Alkohol getrunken hätte, weil ich wohl einen anderen kennengelernt hätte und mich deshalb nicht mehr um ihn bemühen, geschweige denn kümmern würde. Er hätte alles für mich getan und bevor überhaupt ein Redefluss entstehen konnte, wurde Robert vom Therapeuten unterbrochen, der uns eine gemeinsame Aufgabe stellte. Wir sollten auf einer Skala von 0 bis 10 sagen, wie sehr wir diese Beziehung noch wollten, wobei 0 bedeutet, dass man dieser gar keine Chance mehr geben würde. Robert nannte sofort die 8. 10 deshalb nicht, weil es ja wohl einen anderen Mann gäbe, worüber man zuerst mal sprechen müsste. Als der Therapeut auch davon nichts hören und nun meine Antwort wissen wollte und mich dabei ansah, stieg eine unglaubliche Hitze in mir hoch. Ich wollte 0 sagen, traute mich aber nicht, Robert dermaßen zu verletzen. So einigte ich mich mit mir zunächst auf die 4 und ging dann auf „eher 3“ zurück. Robert war erstaunt und entrüstet und meinte, das nicht zu verstehen. Der Therapeut fragte mich: „Warum die 3, warum doch nicht 4 und warum nicht 2?“. Ich meinte darauf, dass wohl noch von der ersten Zeit mit Robert etwas „da“ wäre und ich an daran irgendwie festhalten würde, aber die Zeit darauf hat mich an allem zweifeln lassen. Darauf hat Robert die Redegewalt erfolgreich an sich gerissen, wohl auch deshalb, weil der Therapeut gemerkt haben dürfte, dass ich an einem weiteren Gespräch nicht mehr interessiert war. Ich war einfach zu müde, zu ausgelaugt und erschöpft. Der Therapeut gab uns zum Schluss eine Aufgabe auf. Er wollte, dass wir gemeinsam eine Vereinbarung entwerfen und diese Punkte der Vereinbarung aufschreiben. Diese Punkte sollten sich darauf beziehen, was wir uns für die Beziehung versprechen, egal ob diese dann weitergehen würde oder nicht. Insgeheim habe ich damals geglaubt, dass der Therapeut ohnehin keine Weiterführung unserer Ehe gesehen hat. So wie auch ich.
Robert war nach dieser Therapiesitzung noch aufgekratzter als zuvor. Er meinte, wir müssten uns sofort an die vom Therapeuten gestellte Aufgabe machen und er möchte diese Vereinbarung einrahmen und für uns alle sichtbar aufhängen. Ich konnte nicht „Nein“ sagen, ich fühlte mich ständig blockiert, hatte Angst, dass ein Widerspruch zu einer erneuten Eskalation führen würde und nickte daher einfach nur. Dass ich Robert eigentlich zu verstehen gegeben hatte, dass es wohl keine gemeinsame Zukunft mehr geben wird, ignorierte er erfolgreich. Zunächst…
Denn noch an diesem Abend, noch bevor wir überhaupt mit der Aufgabe begonnen hatten, kam es zur Trennung. Robert war bereits schlafen gegangen, ich saß noch auf der Couch und wollte mich mit ein wenig Musik ablenken. Ich wollte wieder etwas spüren und dachte, Musik könnte mir dabei helfen. Ich hatte die Augen geschlossen und als ich sie kurz wieder aufmachte, erschrak ich. Robert stand vor mir und sah mich an. Er setzte sich neben mich auf die Couch und bat mich nun um eine ehrliche Antwort. Er wollte wissen, ob es da nicht doch jemanden gäbe und ob ich die Beziehung noch weiterführen möchte. Ich hatte mich noch nicht ganz vom meinem Schrecken erholt und fühlte mich irgendwie überrumpelt, sodass mir das „Nein und nein“ sehr leicht und schnell über die Lippen kam. Robert nickte und ging ohne ein weiteres Wort zu Bett.
Am nächsten Tag hatte er bereits seine Sachen gepackt und meinte unter Tränen, dass er nun zu seiner Mutter fahren würde. Ich stand wie angewurzelt da, konnte nicht reagieren. Robert ging ohne ein weiteres Wort, aber weinend aus der Wohnung.
Als Robert weg war und ich realisierte, dass es nun nach so vielen Jahren zur Trennung gekommen war, war ich unglaublich erleichtert. Ich kann dieses Gefühl nicht in Worte packen, aber es war, als könnte ich nun endlich wieder frei atmen. Dennoch hatte ich Angst vor Roberts Anruf, seinen erneuten Beteuerungen, seinem Weinen und davor, dass ich wieder nicht standhaft bleiben könnte. Aber, zu meinem Erstaunen, passierte nichts davon. Robert meinte, er hätte während der Fahrt viel nachgedacht und eine Trennung wäre sicher die beste Lösung. Er würde noch ein paar Tage bei seiner Mutter bleiben und wir könnten nach seiner Rückkehr alles Weitere besprechen. Ich war zwar sehr überrascht, aber umso mehr erleichtert.
Als Robert wieder zurückkam, versuchte er allerdings einem Gespräch so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Er ging wieder arbeiten und irgendwie machte es den Anschein, als würde alles so weiterlaufen wie zuvor. Ich wollte ihn aber auch nicht überfordern, denn ich dachte, dass er nun sehr viel mit sich zu tun haben würde und eventuell ein bisschen Ruhe und Zeit bräuchte. Die Trennung war ja ohnehin bereits ausgesprochen.
Ich selbst merkte, dass ich durch die „neue Freiheit“ zunächst wieder viel energiegeladener wurde. Ich begann wieder zu arbeiten, kümmerte mich auch sonst weiterhin um alles selbst. Die Erleichterung aufgrund der Trennung war extrem spürbar. Doch Roberts Verhalten verunsicherte mich immer mehr. Ich hatte Angst, ihn erneut auf die Trennung anzusprechen und mit einem erneuten Zusammenbruch umgehen zu müssen und ebenso plagte mich ein schlechtes Gewissen, ihn nochmals vor den Kopf zu stoßen.
Ich konnte damals einfach nicht erkennen, dass ein klarer und eindeutiger Schlussstrich mit allen Konsequenzen die beste Option gewesen wäre – auch wenn dieser Schmerzen verursacht hätte.