Kapitel 9: Der erste Schritt aus der Dunkelheit Teil 1- Ein neuer Weg wird geebnet

Kapitel 9: Der erste Schritt aus der Dunkelheit Teil 1- Ein neuer Weg wird geebnet

Einmal pro Woche ging ich zur Therapie und ich merkte wie gut es mir tat, über alles endlich einmal alleine und in Ruhe reden zu dürfen. Die Therapeutin fragte mich einige Male, woher ich diese oder jene (negative) Meinung von mir hätte, wie ich zu dieser gekommen sei und ob ich das selbst wirklich so sehen würde. Es fiel mir sehr schwer, einen anderen Blickwinkel einzunehmen und eine „bessere“ Meinung von mir zu haben, denn es fühlte sich immer irgendwie falsch an. Und auch wenn ich Vieles von meinen Sichtweisen und Roberts Verhaltensweisen zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht verstand, so war diese Therapie der Beginn eines neuen Weges.

Robert fragte am Anfang noch hin und wieder nach, was ich bei der Therapie denn so besprechen würde, aber er schien an meinen Antworten gar nicht interessiert zu sein. Sobald ich anfing zu reden, fiel er mir ins Wort und begann einfach von seinem Arbeitstag zu erzählen und sich, wie immer, über so vieles aufzuregen, über andere herzuziehen und diese lächerlich zu machen. Aufgrund der Therapie hatte ich gelernt, aufmerksamer zu zuhören und so merkte ich, dass Robert eigentlich immer dieselben Dinge erzählte, auch teilweise stets dieselben Wörter benutzte und auch immer dasselbe Verhaltensmuster zeigte:

Ausnahmslos ER hätte in der Arbeit „den Durchblick“ und sowohl seine Kollegen als auch sein Chef wären die „Idioten“, die keine Ahnung und „keine Eier in der Hose“ hätten. Er wäre viel besser als Chef geeignet und diesen oder jenen Kollegen sollte man ohnehin rauswerfen. Er leide so sehr darunter, dass seine Arbeit nie honoriert werden würde, obwohl er viel mehr leiste als alle Kollegen zusammen. Er hätte es mehr als jeder andere verdient, mehr Gehalt zu bekommen und einen besseren Posten zu bekleiden, aber es sei alles „politisch“ und man würde ihn einfach nicht auf einem höheren Posten haben wollen, denn „dort oben“ möchte man keine Arbeitstiere und „Aufdecker“ wie ihn. Dass er, im Gegensatz zu seinen Kollegen, bei den Bewerbungsverfahren einfach nie gut abgeschnitten hatte, wurde ignoriert und Robert stellte auch das als „abgekartetes“ Spiel gegen seine Person dar. Über seine Kollegen, die mit der Zeit allesamt bessere Posten bekamen, machte er sich nur lustig und wertete diese ab.

Auch über seine Freunde ließ er oftmals kein gutes Haar. Das, interessanterweise immer dann, wenn dem einen oder anderen Freund etwas Gutes widerfahren war. Robert freute sich eigentlich nie mit seinen Freunden mit, sondern fand bei all diesen guten Ereignissen immer etwas Schlechtes. Aber so wie auch ich, ließen sich seine Freunde von seiner negativen Stimmung und seinen Ansichten nach unten ziehen.

Robert liebte martialische und heroisch dargestellte Filme und Serien. Er verlor sich sehr oft in diesen und das vor allem, wenn er ausreichend Alkohol getrunken hatte. Manchmal hatte ich das Gefühl, er fühle sich selbst so wie einer dieser überzeichneten „Helden“, eben nicht, dass er gerne so wäre, sondern dass er glaubte, selbst so jemand zu sein. Jemand der seine Familie und Freunde vor allem Übel und Bösen beschützen könne, der in seinem Vorgehen immer logisch und kontrolliert wäre, ein Anführer, ein Alphawolf, ein Rächer.

Wenn er großspurigen Reden über sich und sein Leben schwang oder sich solche Filme oder Serien im Fernsehen ansah, verschmolz er immer mehr mit seinen Worten, seinen „Helden“ und seinen eigenen geglaubten „Heldentaten“. Schlussendlich endete dies dann in Depression und Frust darüber, dass seine Werte, seine Einstellung, sein ICH nie gesehen würden und er hoffe, dass all die Zweifler mal ihre gerechte Strafe bekommen würden. Dann begann er sich zu ärgern und zu weinen. Er verbiss sich so sehr in seine nicht (an)erkannte Großartigkeit, dass er immer mehr trank und immer mehr Hass in sich entwickelte.

Und dieser Hass hat sich nach rund zehn Jahren Beziehung, wenige Tage vor Weihnachten entladen und den Weg in eine neue Richtung geebnet.

Zuvor kam es allerdings zu „kleineren“ Konflikten, in denen ich versuchte, den Rat meiner Therapeutin zu befolgen und standhaft gegenüber Roberts Aussagen und Ausrastern zu bleiben. Aber es gelang mir nicht wirklich, sondern machte, so wie sie es vorausgesagt hatte, noch schlimmer.

So wollte ich einfach keinen Alkohol mehr kaufen und Roberts Alkoholproblem nicht weiter finanzieren. Als er dann nachhause kam und den „leeren“ Kühlschrank sah, schimpfte er wieder los. Er hätte nach solchen Tagen ein Bier verdient und außerdem lasse er sich von mir nicht bevormunden. Ich gab ihm ruhig zu verstehen, dass er sich ja „seinen“ Alkohol selbst kaufen könne, schließlich verdiene er ja auch genug, und ich wollte einfach nicht mehr, mit einem Kleinkind an der Hand, Unmengen an alkoholischen Getränken kaufen. Ohne ein weiteres Wort stürmte Robert aus der Wohnung und kam mit mehreren Paletten Bier, zahlreichen Flaschen Wein und Whiskey wieder zurück. Er sprach an diesem Tag kein Wort mehr mit mir, trank noch mehr als sonst und schlief auf der Couch.

Von diesem Tag an setzte sich etwas in Bewegung, das ich damals nicht zu deuten vermochte. Es braute sich etwas zusammen.

Die Kommunikation zwischen Robert und mir ebbte immer mehr ab, ich zog mich an den meisten Abenden schon sehr bald ins Schlafzimmer zurück und ließ Robert mit seinen „Helden“ auf der Couch alleine. Ich verstummte zusehends und merkte, dass ich auch keine Kraft mehr hatte, zu streiten oder mir Roberts Predigten anzuhören. Es ging mir zwar nicht gut, aber der Rückzug tat mir besser als die Auseinandersetzungen mit Robert.

So vergingen weitere Wochen bis kurz vor Weihnachten:
Ich hatte meinen Sohn das letzte Mal in diesem Jahr vom Kindergarten abgeholt, machte noch ein paar Besorgungen und begann die Wohnung zu putzen. Ich hatte an diesem Tag noch einiges zu tun, denn für den darauffolgenden Tag war vereinbart, zu Roberts Mutter zu fahren, um dort die Weihnachtsfeiertage zu verbringen. Robert kam am späten Nachmittag nachhause und setzte sich mit einem, seiner Meinung nach, „wohlverdienten Abschlussbier“ in die Küche. Dass es nicht bei diesem einen bleiben würde, war mir ohnehin klar und so ging ich meiner Arbeit wie gewohnt nach. Auch nach dem Abendessen machte ich weiter und nachdem ich meinen Sohn ins Bett gebracht hatte, ging ich in die Küche, wo Robert immer noch saß und trank.
Auf einmal fragte er mich, ob ich bestimmte Neujahrsvorsätze hätte, was ich mir für das kommende Jahr vorgenommen hätte und wie ich vorhätte, meine selbstständige Tätigkeit weiter – mit seinen Worten „besser“ – voranzutreiben. Ich wusste nicht genau, was ich darauf sagen sollte, mir war es auch sehr unangenehm und mir gingen viele Dinge, die ich in der Therapie besprochen hatte, durch den Kopf. Doch bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, begann Robert von seinen Vorsätzen zu erzählen. Zunächst dachte ich, dass er nun nur mehr über sich reden und mich „vergessen“ würde, doch nach Roberts Ausführungen kam er dann doch wieder auf mich zu sprechen und meinte, dass er es sehr merkwürdig finden würde, dass ich ihm ständig ausweiche. Ich würde mich auch nur mehr zurückziehen und nur mehr das allernötigste mit ihm reden. Er hatte dabei so einen „ahnenden“ Unterton und auf einmal fragte er mich, ob es da „jemanden gäbe“, ob ich „jemanden kennengelernt“ hätte. Ich verneinte, aber Robert glaubte es mir nicht. Ich hätte mich so verändert, wäre auf einmal „aufmüpfiger“ geworden und er möchte nun wissen, „was da vor sich ginge“. Doch, so wie es immer war, war Robert ohnehin bereits an einem Punkt angelangt, an dem er Fragen stellte und keine Antworten mehr zuließ. Er redete unaufhörlich weiter und drängte mich immer mehr in eine Ecke. Robert wurde auch immer lauter und er steigerte sich immer mehr in seine Wahnvorstellungen hinein. Als es mir zu laut wurde, unterbrach ich seinen Redefluss, bat ihn leiser zu reden und sagte ihm, dass ich mir das alles nicht mehr anhören möchte und wir, wenn er nüchtern sei, nochmals in Ruhe darüber reden könnten. Robert nahm das als Bestätigung für seine Vermutung, dass es da doch „jemanden gäbe“ und dann begann er richtig zu schreien. Er stand dabei auf und machte drohende Gesten in meine Richtung. Ich bat ihn, aufzuhören und als er immer mehr und mehr schrie und sich drohend auf mich zubewegte, lief ich weg in Richtung Schlafzimmer. Robert lief mir nach. Ich sperrte mich ins Schlafzimmer ein, doch Robert polterte gegen die Türe, sodass ich diese, aus Angst mein Sohn würde deshalb aufwachen, wieder öffnete. Robert verbat mir, die Türe erneut zu versperren und ging wutentbrannt wieder in die Küche. Nach einigen Minuten hörte ich ihn vor der Türe erneut. Ich lauschte und nach wenigen Atemzügen riss er plötzlich die Türe auf und meinte, dass er einen Abschiedsbrief geschrieben hätte, nun noch einen Whiskey trinken und sich dann eine Kugel in den Kopf schießen würde. Robert besaß seit Jahren eine Waffe und als ich ihm in die Küche folgte, sah ich diese auf dem Küchentisch liegen, neben einem Brief und einem leeren Whiskeyglas. Robert nahm die Waffe in die Hand und fuchtelte mit ihr vor meiner Nase herum und befahl mir, den Brief zu lesen. Aus Nervosität und dem Umstand, dass Robert sehr unleserlich geschrieben hatte, konnte ich fast kein einziges Wort lesen. Robert schrie mich an und schluchzte, dass ich den Brief lesen solle und ich tat so als ob ich ihn lesen würde. Dann legte ich den Brief wieder hin und bat Robert, die Waffe wegzulegen, die er sich bereits an die Schläfe anhielt. Es würde alles wieder in Ordnung kommen, er solle an seinen Sohn denken und dass das doch keinen Sinn machen würde. Doch Robert schrie mich nur an, dass ICH an seinem Zustand schuld sei und ich ihn so weit getrieben hätte, dass er nun keinen anderen Ausweg mehr sehen würde. Ich kann heute nicht mehr sagen, wie lange dieser Moment gedauert hat, vermutlich gar nicht so lange, wie er mir in diesem Augenblick vorkam, und nach meinem andauernden Zureden nahm Robert dann endlich die Waffe runter. Er knallte sie mit voller Wucht auf den Küchentisch, ging ohne ein weiteres Wort ins Kinderzimmer, packte meinen Sohn, trug ihn ins Schlafzimmer und schlief mit ihm ein. Ich versuchte ihn noch davon abzuhalten, aber Robert stieß mich permanent von sich und ich wollte vermeiden, dass der Kleine aufwachte.
Die Türe war geöffnet und ich fiel auf den Boden vor dem Schlafzimmer. Ich begann zu weinen und fühlte mich hilflos. Ich beobachtete beide und hatte Angst, dass Robert wieder aufwachen und uns etwas antun könnte. Seit Roberts Ankündigung sich umzubringen, dachte ich ständig daran, die Polizei zu rufen. Aus Angst, mein Sohn könnte durch einen sicher dramatischen und lauten Polizeieinsatz traumatisiert werden, tat ich es nicht.

Als ich merkte, dass Robert tief und fest schlief, nahm ich meinen Sohn und legte mich mit ihm gemeinsam in sein Bett.

Ich konnte noch lange nicht einschlafen und hörte auf jede Bewegung, jedes Knarren des Fußbodens und hatte oft das Gefühl, mein Herz würde zerspringen. Genau dieses Gefühl hat mich noch Jahre danach begleitet.

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